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«Die Schweiz nähert sich einem Bedarfssystem an, das überwiegend aus Steuereinnahmen finanziert wird. Brechen diese ein, kann man es nicht mehr finanzieren.»

Donnerstag, 26.07.2018

Seit zehn Jahren sinken die Renten aus der 2. Säule. Für Thomas Gächter, Professor für Staats- und Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich ist klar, dass immer mehr Menschen mit dem Existenzminimum leben müssen, sollte dies so weitergehen.

Die Generationen, die heute arbeiten, werden im Alter vielleicht nicht gerade arm sein. Es wird ihnen aber nicht mehr so gut gehen wie der Generation, die in den letzten Jahren in den Ruhestand getreten ist, sagt Thomas Gächter im Interview mit dem «Tages-Anzeiger».

Pensionierte können nicht nur von der AHV leben

Zum einen erfülle die AHV ihren Auftrag nicht vollständig. Als erste Säule der Altersvorsorge müsse sie gemäss Verfassung die Existenz sichern. Heute könne aber selbst ein Einkommensmillionär nicht von der AHV alleine leben – er erhalte höchstens die Maximalrente von 2'350 Franken. Damit komme aufgrund der gestiegenen Mieten und Krankenkassenprämien niemand aus. Pensionierte brauchten auch die Rente aus der zweiten Säule, die es ihnen eigentlich erlauben sollte, ihren Lebensstandard weiterzuführen. Bis jetzt sei das gut gegangen. Aber nun, da die Renten aus der zweiten Säule sinken würden, werde der Konstruktionsfehler offensichtlich, wie Gächter erklärt.

Viele Rentner leben lieber in Armut als auf ein Amt zu gehen

Rentner könnten zwar Ergänzungsleistungen beantragen, wie Gächter weiter erklärt. Sie hätten sogar Anspruch darauf. Viele würden sich jedoch schämen auf ein Amt zu gehen. Stattdessen würden viele Betroffene glauben, versagt zu haben, weil ihre Rente nicht reiche, und würden lieber in Armut leben.

Wer ins Bedarfssystem wechselt, wird ein Stück weit entmündigt

Natürlich müsse jemand, der Ergänzungsleistungen wolle, seine finanzielle Situation vollkommen offenlegen. So müsse man aufzeigen, wie viel Geld man ausgeben und wie viel man erhalten würde. Auch müsse man nachweisen, dass man bedürftig sei. Rentner, die in ein solches Bedarfssystem wechselten, würden damit ein Stück weit entmündigt. Sie dürften nicht mehr so viel von ihrem Ersparten ausgeben, wie sie wollten.

Ein Rentner, der ein Leben lang einbezahlt hat, könnte aufs Sozialamt gehen müssen

Als besonders stossend empfindet Gächter, dass ein Rentner, der sein Haus vor Jahren seinen Kindern überschrieben habe, dieses rückwirkend immer noch als Vermögen angerechnet bekäme, obwohl er das Haus nicht mehr besitze. So könne es sein, dass ein Rentner, der ein Leben lang Sozialbeiträge einbezahlt habe, keine Ergänzungsleistungen erhalte und auf das Sozialamt gehen müsse.

Brechen die Steuereinnahmen ein, lässt sich das Bedarfssystem nicht mehr finanzieren

Dennoch ist Gächter überzeugt, dass ein wachsender Teil der Bevölkerung künftig Ergänzungsleistungen beziehen muss. 2017 bezogen bereits 322'800 Personen in der Schweiz Ergänzungsleistungen. Wenn nichts geschehe, würden die Schweizer ein Volk von Ergänzungsleistungsbezügern. Die Schweiz nähere sich einem Bedarfssystem an, das überwiegend aus Steuereinnahmen finanziert werde. Würden diese allerdings einbrechen, könne man es nicht mehr finanzieren.

Was jetzt stattfindet, ist eine Art Enteignung der Erben

Die heutigen Anreize höhlten die Motivation, die eigene Rente vorzufinanzieren, aus, findet Gächter. Denn schon ein Jahr in einem Pflegeheim könne ein kleines Vermögen auffressen. So werde sich jeder fragen, weshalb er noch einen Effort leisten und sparen solle, wenn er im Alter alles verlieren könne.

Was jetzt stattfinde, sei eine Art Enteignung der Erben, kritisiert Gächter. Viele Leute hätten etwas gespart, ein Haus gebaut, und wollten es ihren Kindern geben. Wenn eine Person aber Ergänzungsleistungen beziehe, müsse sie ihr Vermögen bis auf 37'500 Franken aufbrauchen. Das treffe vor allem den Mittelstand, und zwar nicht nur den unteren. Nur bei sehr wohlhabenden Familien bleibe genug übrig, wenn die Eltern länger pflegebedürftig gewesen seien.

Bis jetzt sei der Widerstand gegen dieses Phänomen allerdings gering, notiert Gächter. Es sei ein heikles Thema; er wirke nicht sympathisch, wenn sich jemand für ein Erbe wehre, das er noch nicht habe.

Im Parlament wird über Missbrauch diskutiert, statt darüber, was man zum Leben braucht

Unter diesen Umständen findet es Gächter auch nicht verwerflich, wenn sich einzelne Rentner ihr Guthaben auszahle liessen und eine Weltreise damit machten. Sie würden sich damit ökonomisch gesehen rational verhalten, indem sie sich das System zunutze machten.

Würden die Kosten steigen, solle man nicht mit dem Finger auf jene zeigen, die nach den Regeln des Systems spielten, sondern das System ändern, mahnt Gächter. Würde die AHV die Existenz sichern, könne es gar nicht so weit kommen. Im Parlament zeige sich, was geschehe, wenn Ergänzungsleistungen statt Renten zur wichtigsten Stütze des Sozialsystems würden: Es werde über Missbrauch diskutiert, statt darüber, was man wirklich zum Leben brauche. Je stärker das System unter Druck gerate, desto giftiger werde der Ton.

Pflegekosten könnten das Ergänzungsleistungssystem zum Kollabieren bringen

Gächter sieht das Problem auch darin, dass die Ergänzungsleistungen heute alles auffangen müssten. Sie müssten die Existenz sichern und die Pflegekosten tragen. Die meisten Betagten könnten mir ihrer Rente kein Pflegeheim zahlen. Aber das habe der Gesetzgeber sehenden Auges in Kauf genommen. Er habe zwei Dinge miteinander verbunden, die nicht zusammengehörten: das Alter und die Pflege. Zwar erhalte jeder, der alte werde, AHV. Aber nicht jeder AHV-Bezüger werde auch pflegebedürftig. Es bräuchte daher dringend eine Pflegeversicherung. Pflege sei der grosse Kostentreiber bei den Ergänzungsleistungen, sagt Gächter.

Die Babyboomer, die jetzt in den Ruhestand gingen, würden in zwanzig Jahren pflegebedürftig. Ihre Pflege werde eine solche Kostenbombe sein, dass sie das ganze System der Ergänzungsleistungen zum Kollabieren bringen könne. Doch Politiker dächten selten zwanzig Jahre voraus; das liege ausserhalb der Zeit, während der sie gewählt werden wollten. 

Renten aus der 1. und 2. Säule müssen so hoch sein, dass es keine Ergänzungsleistungen mehr braucht

Das Parlament müsse die Fehler im Schweizer Vorsorgesystem beheben, da sich das Bedarfssystem der Ergänzungsleistungen ansonsten immer weiter ausweite, propagiert Gächter. Es müsse dafür sorgen, dass die Renten aus der ersten und der zweiten Säule so hoch seien, dass es keine Ergänzungsleistungen mehr brauche. Vor allem Frauen hätten, wenn überhaupt, aus der Pensionskasse oft nur eine kleinere Rente. 

Systematisch wäre es gemäss Gächter richtig, die erste Säule so stark auszubauen, dass sie die Existenz alleine sichere. Nüchtern betrachtet werde jedoch jede grundlegende AHV-Reform scheitern, da die Stimmenden Nein zu einer höheren AHV-Rente und zu einem höheren Rentenalter sagen würden, räumt Gächter ein. Man müsse sich deshalb gut überlegen, ob man die AHV ausbauen wolle. Es habe zwar den Vorteil, dass der Staat weniger Ergänzungsleistungen zahlen müsse und die Steuerzahler entlastet würden. Dafür verteuere sich aber die Arbeit, und die Mehrwertsteuer steige. Dies alles sieht Gächter zurzeit als kaum durchsetzbar.

Jetzt geht es erstmal darum, das System zu stabilisieren

Gächter rät daher von einer Erhöhung des Rentenalters ab. Jetzt, da die Babyboomer in den Ruhestand treten würden, gehe es darum, das System zu stabilisieren. Bei einer nächsten Vorlage müsse man das aber ernsthaft erwägen. Viele der heutige Alten hätten als Dienstleister gearbeitet und seien fitter und gesünder als frühere Generationen. 

Das Projekt von Bundesrat Alain Berset dürfte laut Gächter halten, was es verspreche: Es stabilisiere die AHV für eine gewisse Zeit und sehe Massnahmen vor, um es auch bei stark steigenden Rentnerzahlen finanziell im Gleichgewicht zu halten. Der Ausgleich für eine Übergangsgeneration von Frauen scheint Gächter sinnvoll – sie müssten sonst alleine einen wesentlichen Teil der Sanierungskosten tragen. Der grosse Wurf sei es aber nicht, so Gächter, denn es behebe den Systemfehler nicht. Man gewinne damit aber Zeit, wodurch zumindest die übernächste Generation wieder solide und sichere Renten habe.

Das vollständige Interview mit Thomas Gächter lesen Sie im «Tages-Anzeiger» vom 25. Julil 2018.

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