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Witwer werden bei der AHV diskriminiert

Montag, 27.02.2023

Renten müssen der heutigen Arbeitswelt sowie den gesellschaftlichen Entwicklungen gerecht werden, fordert Jérôme Cosandey von Avenir Suisse. Dazu gehört auch die Gleichbehandlung von Mann und Frau.

Männer sind bei Todesfällen den Frauen in der AHV nicht gleichgestellt. Witwer erhalten nur so lange eine Rente, wie sie minderjährige Kinder haben, Frauen hingegen lebenslang. Selbst Frauen ohne Kinder profitieren von einer Witwenrente, sofern sie das 45. Altersjahr vollendet haben und mindestens fünf Jahre verheiratet waren. Kinderlose Witwer gehen hingegen leer aus. Diese Definitionsunterschiede wiegen schwer und spiegeln sich in den Zahlen: Im Dezember 2021 erhielten rund 176’000 Personen Witwen- oder Witwerleistungen, darunter weniger als ein Prozent Männer, fasst Jérôme Cosandey zusammen.

Schweiz verstösst gegen das Diskriminierungsverbot

Diese Ungleichbehandlung sei seit langem politisch umstritten, sagt Cosandey. Er führt sodann den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) an, der die Ungleichbehandlung als Verstoss gegen das Diskriminierungsverbot bezeichnet habe. Damit habe die Thematik im Oktober 2022 eine neue Wende genommen. Der EGMR-Entscheid beziehe sich allerdings nur auf den konkreten Fall eines Familienvaters im Erwerbsalter, der sich nach dem Tod der Ehefrau ganz der Erziehung der minderjährigen Kinder gewidmet habe. Die AHV-Leistungen seien sistiert worden, als seine Kinder die Volljährigkeit erreicht hätten. Der EGMR habe sich jedoch nicht über andere Diskriminierungen der Schweizer AHV, beispielsweise bei Witwern ohne Kinder, geäussert.

Es braucht eine neue gesetzliche Grundlage

Aufgrund des EGMR-Entscheids habe das Bundesamt für Sozialversicherungen eine Übergangsregelung geschaffen und die Ausgleichskassen angewiesen, Witwer mit Kindern gleich zu behandeln wie Witwen mit Kindern, so dass die Witwerrente nicht mehr mit dem 18. Geburtstag des jüngsten Kindes erlösche, erklärt Cosandey weiter. Damit solle einer erneuten Verletzung der Menschenrechte vorgebeugt werden. Mittelfristig brauche es aber eine neue gesetzliche Grundlage, fordert Cosandey. Ob der Bundesrat dafür eine Vorlage erarbeite, sei noch offen. Bereits im April 2022, noch vor dem EGMR-Entscheid, habe die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats beschlossen, eine Kommissionsinitiative zu ergreifen, um die Leistungen im Todesfall anzugleichen. Falls die Kommission des Ständerats dieser Initiative Folge leiste, werde die Kommission des Nationalrats einen Gesetzesentwurf ausarbeiten. Möglich sei aber auch, dass das Parlament den Auftrag der Verwaltung übergebe.

Gleichbehandlung kann auf verschiedene Arten erreicht werden

Aus sozialpolitischer Sicht könne die Gleichbehandlung für Witwer- und Witwenleistungen in der AHV auf drei Arten erreicht werden, so Cosandey: Indem die Leistungen für Männer auf diejenigen für Frauen angehoben würden; indem die Leistungen für Frauen auf diejenigen für Männer reduziert würden; oder indem ein Mittelweg bestimmt werde, der für beide Geschlechter gleiche Leistungen sichere, der aber vom geltenden Recht abweiche.

Ausbau nach oben würde teuer

Die Anhebung der Leistungen für Männer entspräche einem deutlichen Ausbau der Leistungen, rechnet Cosandey vor. Bereits heute würden die Witwen- und Witwerleistungen ca. 1,8 Milliarden Schweizer Franken pro Jahr betragen. Zum Vergleich: 2019 hätten die Gesamtausgaben der Sozialhilfe 3,4 Milliarden Franken betragen. Eine gesetzliche Anpassung, die nur den vom EGMR gerügten Fall formalisiere, würde vorerst wenige Zusatzausgaben verursachen, sofern sie keine rückwirkende Wirkung entfalte. Leistungen erhielten dann nur Witwer, deren Kinder nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes volljährig würden. Die Kosten würden aber stetig steigen, weil jährlich Leistungsbezüger dazu kämen.

Deutlich teurer wäre eine Anpassung der Witwerleistungen an diejenigen der Witwen, unabhängig von der Kindersituation. Allerdings würden Männer heutzutage oft früher als Frauen sterben, da sie eine tiefere Lebenserwartung hätten. Zudem sei der Ehemann in der Regel älter als seine Ehefrau. Aus beiden Gründen gäbe es deutlich weniger Witwer als Witwen, die zudem weniger lang Leistungen bezögen. Eine Anpassung würde deshalb nicht zur Verdoppelung der Leistungen führen, jedoch immer noch Hunderte Millionen Schweizer Franken kosten.

Witwenrenten zu senken wäre am naheliegendsten

Gemäss Cosandey wäre die naheliegendste Variante, die Witwenrenten zu senken. Selbstverständlich brauche es Unterstützung, solange Waisen im Schulalter seien: Wo früher vier Schultern die zeitliche und finanzielle Belastung getragen hätten, seien es nach einem Todesfall nur noch zwei. Spätestens jedoch, wenn die Kinder ihre Grundausbildung abgeschlossen hätten, könne sich der verbliebene Elternteil wieder voll einer Erwerbsarbeit widmen. Eine Rente nach Ende der Ausbildung des jüngsten Kindes lasse sich daher kaum begründen, wie er findet. Allerdings würden die geltenden Witwerleistungen nur bis zur Volljährigkeit des jüngsten Kindes und nicht bis zum Ende der Ausbildung ausgerichtet. Politisch könne es eine solch radikale Kürzung deshalb schwer haben.

Wie sieht eine Witwer- und Witwenrente der Zukunft aus?

Der Mittelweg böte Gelegenheit, die Leistungen für Hinterbliebene an die Realität der Familienorganisation und der Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts anzupassen, schlägt Cosandey vor, und auf die Witwenrenten für kinderlose Frauen zu verzichten. Es gäbe keinen Grund, warum eine Ehefrau ohne familiäre Verpflichtung im Todesfall des Ehemanns von der Allgemeinheit unterstützt werden solle. Diese Vorstellung der Ehe als Vorsorge für kinderlose Frauen stamme aus der Zeit der Einführung der AHV und entspreche einer überholten patriarchalen Weltanschauung.

Mit einem Teil des eingesparten Geldes bei kinderlosen Paaren könne eine Flexibilisierung der Witwer- und Witwenleistungen bis zum Ende des Studiums – zum Beispiel bis zum 25. Lebensjahr statt bis zur Volljährigkeit der Kinder – finanziert werden, unabhängig vom Geschlecht des hinterbliebenen Elternteils. Die Leistungen könnten bei Haushalten mit jungen Kindern höher ausfallen, weil ihre aufwendigere Betreuung die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erschwere. Mit steigendem Alter der Kinder wäre eine stufenweise Reduktion denkbar, weil der Witwer oder die Witwe vermehrt einer beruflichen Tätigkeit nachgehen könne.

Eine solche Staffelung werde zum Beispiel bei der Zusprache von Alimenten nach einer Scheidung angewandt. Gemäss einem Entscheid des Bundesgerichts 2018 müsse der hauptbetreuende Elternteil ab der obligatorischen Einschulung des jüngsten Kindes grundsätzlich zu 50% eine Erwerbsarbeit ausüben, ab dessen Eintritt in die Sekundarstufe zu 80% und ab dem vollendeten16. Lebensjahr zu 100%. Massgebend sei der Lebensabschnitt, nicht das Alter der Kinder. Eine Witwer- und Witwenlösung, die sich an die Praxis bei geschiedenen Ehepaaren anlehne, wäre folgerichtig, propagiert Cosandey.

Neue Witwerregelung dürfte emotionale Debatte auslösen

Das Abwägen der neuen Witwerregelung werde eine öffentliche und wohl sehr emotionale Debatte auslösen, fürchtet Cosandey. Nicht nur aus finanziellen Gründen sei es wichtig, die alten Regelungen für die Witwenrente als Benchmark für die Witwer zu hinterfragen. Die Witwenleistungen seien bei der Einführung der AHV 1947 definiert worden, als nur Männer das Stimmrecht gehabt hätten, und das Rollenbild des Mannes als Ernährer und der Frau am Herd vorgeherrscht habe. Selbst die jüngsten unter den damaligen männlichen Abstimmenden seien unterdessen 95 Jahre alt. Von dieser Weltanschauung gelte es Abschied zu nehmen. Es sei vielmehr wichtig, die heutigen Realitäten in der Familienorganisation und im Arbeitsmarkt besser abzubilden und eine vom Geschlecht unabhängige Witwer- und Witwenrente zu definieren, die auch den gesellschaftlichen Entwicklungen der nächsten 50 Jahre gerecht bleiben werde.

Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 2/23 der Zeitschrift «Die Volkswirtschaft» erschienen.

 

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